
11.07.2020 | Nachdem in diesem Jahr der 1. Mai ins Netz verlegt wurde, hier ein schöner Artikel aus dem Jahr 1928:
Maiforderung an das Proletariat
„Wenn am Tag des Proletariats, am 1. Mai, die Arbeiterschaft unter den roten Fahnen durch die Straßen der Städte marschiert – wenn an diesem Tage in Tausenden von Städten das Proletariat seine Forderungen von neuem aufzeigt – dann denken wenige daran, daß der Maitag auch der Tag der Selbstbesinnung für die Arbeiterschaft sein muß, daß der 1. Mai auch an das Proletariat eine große, gewaltige Forderung stellt.[...]
Die letzten Jahrzehnte des Klassenkampfes haben gelehrt, daß der Sozialismus außer der ökonomischen Reife unbedingt die geistige Reife des Proletariats benötigt. Es ist also unbedingt notwendig, daß das Proletariat jegliche ihm zu Gebote stehende Mittel benutzen muß, um sich geistig weiter zu entwickeln. Bevor wir uns aber weiterbilden wollen, müssen wir erst eine Reinigung unseres Bewußtseins von den Schlacken der Vergangenheit vornehmen.
Vieles ist uns im Laufe der Jahrhunderte anerzogen worden, teils von Eltern, teils von Schule und Kirche, den Vätern durch das Militär usw., welches uns jetzt nur hindernd im Wege steht. Schon Karl Marx hat in frühen Jahren als eine Hauptforderung zur Errichtung einer neuen Gesellschaft den Grundsatz aufgestellt: „Reform des Bewußtseins“. Es heißt nichts anderes als eine Erneuerung der Denkweise und der Ideologie der Arbeiterklasse. Er sah, daß die Klassenherrschaft auch unter den Besitzlosen eine Auffassung gezüchtet hatte, die den Glauben an das Selbstbewußtsein der schaffenden Klasse völlig untergrub. Die Besitzlosen fühlten sich selbst minderwertiger gegenüber den Besitzenden. Sie fanden es ganz in der Ordnung, von diesen beherrscht zu werden. Sie lebten dahin, ohne jegliche selbständige Regung, als eine Art geistiger Automaten. [...] Neue Verhältnisse bedingen neue Menschen. Keiner darf aufeinander warten, sondern gleichzeitig mit der wirtschaftlichen Entwicklung zum Sozialismus muß die Entwicklung des vom Traditionellen behafteten Menschen zum geistig reifen, zum sozialistischen Menschen Schritt halten.
Das ist die große Forderung, die der 1. Mai an das Proletariat stellt: Überwindung des alten Menschen, Erziehung zum Selbstbewußtsein. – Denken wir an Marx, der da sagt: ‚Das Selbstgefühl des Menschen, die Freiheit, ist in der Brust der Menschen erst wieder zu erwecken. Nur dieses Gefühl kann aus dieser Gesellschaft wieder eine Gemeinschaft für ihre höchsten Zwecke machen‘.“
Aus: Am Wege – Nachrichtenblatt des Gau Thüringen im touristen-Verein „Die Naturfreund“, 5/1928, Seite 65
aus: WanderfreundIn 02-2020